Wolkenschloss by Kerstin Gier

Wolkenschloss by Kerstin Gier

Autor:Kerstin Gier [Gier, Kerstin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104905839


15

Wir bemerkten schon von weitem, dass Pavel nicht allein in der Wäscherei war, denn nicht mal er konnte »Hört der Engel helle Lieder« in der französischen Ursprungsversion zweistimmig singen. Beinahe hätte ich im spärlich beleuchteten Kellergang nach Bens Hand gefasst, so schön und ergreifend klang das, viel festlicher als das internationale Weihnachts-Geklimper oben in der Bar.

Doch das ging natürlich nicht. Ich war ja immer noch sauer auf ihn.

Die Kellerräume verfügten durch das Gewölbe ohnehin schon über eine beeindruckende Akustik, die auch bei meiner Stimme das Volumen immer mindestens verdoppelt hatte, aber auch so war die Darbietung wirklich grandios. Pavels kräftiger Bariton hatte wie gewohnt souverän die Melodie übernommen, darüber erklang ein glockenheller Tenor.

Im Türrahmen blieb ich verblüfft stehen. Der Tenor gehörte niemand anderem als dem alten Stucky, der mit Pavel an dem Tisch saß, an dem normalerweise kleine Näharbeiten wie das Annähen von Knöpfen oder das Fixieren eines Saumes vorgenommen wurden.

Eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit stand zwischen den beiden, dem hutzeligen, gebeugten Alten und dem hünenhaften, wie immer nur in Jeans und Unterhemd gekleideten Jüngeren. Im Hintergrund summten ein paar Maschinen, das Licht eines Kerzenstummels warf flackerndes Licht an die Wände.

Der Anblick und das glasklare »Gloria in excelsis Deo«, das den ganzen Raum erfüllte, trieben mir die Tränen in die Augen. Wie konnte ein so alter Mann so eine junge, engelhafte Singstimme haben?

Ben lächelte mich von der Seite an. Offenbar waren ihm die verborgenen Talente des Haus- und Stallmeisters bekannt.

»Da staunst du, was?«, sagte er, als der Refrain verklungen war. »Der alte Stucky war mal Solist bei den Solothurner Sängerknaben.«

»Singknaben«, verbesserte der alte Stucky und fügte einen Satz hinzu, in dem ich außer »Aber« kein Wort verstand.

»Aber er wollte lieber in den Bergen sein. Bei den Tieren und in der Natur«, übersetzte Ben. »Singen kann man ja überall.«

»Überall und immer!« Pavel hatte uns schwungvoll auf beide Wangen geküsst und sein Päckchen entgegengenommen. Anstatt es auszupacken, goss er die Flüssigkeit aus der Flasche in zwei gar nicht so kleine Gläser und reichte uns jeweils eins. »Der alte Stucky macht sich Sorgen wegen der bösen Omen …«

»Wegen welcher bösen Omen?« Ich schnupperte misstrauisch an meinem Glas. Es roch wie mein antibakterielles Gesichtswasser.

Der alte Stucky sagte etwas, das ich nicht verstand.

»Der Mond hatte einen Kragen um.« Ben übernahm wieder die Übersetzung, wobei er sich ein belustigtes Augenrollen nicht verkneifen konnte. »Und der Berggeist hat den alten Stucky im Traum besucht und ihn gewarnt, dass etwas Böses vorgeht.«

Der alte Stucky kniff zustimmend seine Augen zusammen. »Dr Bärg gspirtses.«

»Oh.« Ich spürte, wie eine Gänsehaut an meinen Armen hochkroch.

»Kein Aberglaube an Heiligen Abend … vielleicht Birnenschnaps hilft«, sagte Pavel. Er lächelte zwar nachsichtig, aber als er sein Glas hob, stand feierliche Strenge in seinen Augen. Was den Glauben anging, verstand Pavel keinen Spaß. Obwohl auf seinen mächtigen, muskulösen Oberarmen eine Menge heidnische Symbole tätowiert waren, war er nämlich zutiefst katholisch, die Tattoos dienten offenbar nur der Irreführung und Abschreckung. »Lasst uns anstoßen auf Geburt von Jesus Christus, der gebracht hat der Licht in die Welt und die Herzen der Menschen.



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